Die Nachkriegsjahre stellten alle Familien in den Dresdner Arbeitervierteln vor große und kaum lösbare Aufgaben, zumal das hehre Ziel einer sozialistischen Gesellschaft ihren Alltag zusätzlich beschwerte.
Anfangs mit großen Vorbehalten, später mit allmählicher Annäherung an soziale Bedingungen, wie sie nur unter neuen Machtverhältnissen möglich waren, gestalteten sie ihr Dasein mit, ohne Angst vor der Staatssicherheit, ohne SED-Mitglied oder Stasi-Spitzel zu sein, aber sozial gesichert und mit sozialen Beziehungen, die neu waren in der Geschichte des deutschen Volkes, aber die dennoch nicht stark genug waren, um dauerhaft zu sein.
Günter Mager (D)
Buch, Softcover mit Klappen, Autor: 688 Seiten, 21,5 x 13,5 cm, erschienen: 8.10.2015, 1. Auflage Deutsch, ISBN: 978-3-906212-21-0
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Günter Mager erlebte seine Kindheit in einem von den Nazis verfolgten und sozialdemokratisch orientierten Elternhaus, das ihn weltanschaulich prägte und ihn zum Gegner faschistischen Handeln und Denkens macht.
Er studierte Geschichte und promovierte an der Martin-Luther-Universität Halle.
Er lehrte u.a. als Dozent an einer Fachschule.
Jeder Mensch wird in eine Zeit hineingeboren, die er sich selbst nicht ausgesucht hat. Er lebt im Heute und vielleicht macht er sich bewusst, dass die Umstände seiner Existenz auf vorherigem Geschehen fußen, an dem er keine Schuld trägt und auch keine Verdienste hat. Er muss sich seiner Zeit stellen, ob er will oder nicht.
Nachdem die deutschen Eliten in einem Jahrhundert zweimal die Völker der Welt in barbarische Kriege mit fast einhundert Millionen getöteter Menschen gestürzt hatten, lag es nahe, ihnen die Macht für weitere Untaten endgültig zu nehmen. Einen Versuch war es wert. Sie widerstanden diesem Versuch und verübelten es denen, die das wagten. Sie verunglimpften diesen Versuch mit Schlagworten wie Mauerbau, Mauertote, Schießbefehl, Todesschüsse und Todesstreifen, Torgau und Bautzen, IM, Ministerium für Staatssicherheit und Unrechtsstaat. Von einem objektiven Geschichtsbild ist das weit entfernt. Dass die alten Eliten, denen für ein paar Jahrzehnte die Macht über einen Teil des Volkes genommen worden war, die Waghalsigen mit Häme und Spott und Verfolgung, wo auch immer es möglich war, überschütten, macht ihre Taten nicht besser, sondern bestätigt nur, dass das in der deutschen Geschichte schon immer so war.
Die Helden dieses Romans – die Herrmanns, Wesers und ihre Freunde und Bekannten – nahmen in unterschiedlicher Weise an diesem „sozialistisch“ genannten Versuch teil. Sie erlebten in dieser Zeit ihre Kindheit und Jugend und erlebten im Erwachsenenalter sein Scheitern. Sie passten sich an, nahmen als selbstverständlich hin, was die Zeit ihnen als Ergebnis politischen Wollens bot oder gestalteten es selbst mit.
Alles, was im Einzelnen erzählt wird, wurde tatsächlich auch erlebt. Nichts ist erfunden, aber den handelnden Personen frei zugeordnet. Es ist dies die Geschichte ihrer Familien. Vieles liegt inzwischen zwei Generationen zurück und kann noch so oder so nachvollzogen werden von denen, die mit ihnen millionenfach in ihrer Weise ihr Leben lebten. Es wird nichts übertrieben und nichts beschönigt. Es ist dies das Leben von Millionen jenseits des Kapitalismus – mit kostenlosem Gesundheitswesen, hochentwickeltem Bildungssystem, Recht auf Arbeit und gleichem Lohn für gleiche Arbeit, neuem Familien-, Zivil- und Strafrecht u. v. a. – mit einem Steinbruch neuer Ideen.* Neben der Mehrheit existierte eine kleine Minderheit, die den alten Eliten und ihren Nachkommen Treue geschworen hatten und erleben mussten, dass sie keinen Platz finden konnten in diesem „sozialistisch“ genannten Versuch, wenn sie sich aktiv gegen ihn aufbäumten. Sie kommen in diesem Roman nur andeutungsweise vor und sind anderswo hinreichend beschrieben.
Anregungen erhielt der Autor aus den Gedanken und Schriften Siegfried Wenzels, Claudia Wagnerins, Günter Herlts, Herbert Grafs, Helmut Altrichters, Erich Kubys, den Herausgebern von „Leben in der DDR“, der „Geschichte des FDGB‘“, der Sammlung des Schweizer Atlasverlags „Das war die DDR“ und vielen anderen. Ihnen schulde ich Dank, wie auch meiner Frau Doris, den Freunden und Bekannten Cornelia H., Karin W., Hannelore R., Siegfried A. und anderen. Sie begleiteten kritisch und anregend die inzwischen für heutige Jugendliche unwirklich dünkenden und dennoch wahr gewesenen Erlebnisse der Herrmanns und Wesers in den Jahren der Existenz der DDR.
* In „Neues Deutschland“, 14./15. Mai 2011.
Erster Teil, 1. Kapitel
Im Dresdner Ortsteil Pieschen lebten vor dem britisch-amerikanischen Bombenangriff vor allem Arbeiter mit ihren Familien, die in den großen Fabriken auf dem Industriegelände, in den Randgebieten der Großstadt und im nahen Schlachthof jenseits der Elbe ihren Lohn verdienten. Die Folgen der Bombennacht vom 13. Februar 1945 ließen auch ein paar Leute aus den angeseheneren Stadtteilen – Striesen, Johannstadt oder Südvorstadt – nach Pieschen kommen. Sprach man jedoch davon, wo man in Dresden gern wohnen würde, so meinte man die Ortsteile Weißer Hirsch oder Blasewitz, die im Wesentlichen von den Bomben verschont geblieben waren und welche nach dem Dresdner Zwinger, der Gemäldegalerie, der Frauenkirche und anderer historischer Denkmale das Aushängeschild der Stadt waren.
Bettinas Eltern wohnten mit ihren drei Töchtern Carmen, Gudrun und Bettina in Pieschen in der Eisenberger Straße im dritten Stock. Das Haus klemmte in einer Reihe von Häusern zwischen zwei gleich hohen Gebäuden. Als sie gebaut wurden, polterten noch schwer beladene Pferdewagen über die Kopfsteinpflaster der Straße, die von breiten Bürgersteigen gesäumt war. Die älteren Leute nannten diese selbst in den fünfziger Jahren noch immer „Trottoir“.
Auch auf der anderen Straßenseite drängten die Häuser aneinander. Da war kein Platz für einen zierenden Baum, keiner für einen Garten vor dem Haus. Nur Unkräuter lugten zwischen den breiten Gehwegplatten hier und da hervor; niemand nahm von ihnen Notiz. In der Nacht, in der große Teile Dresdens in Trümmern versanken, waren in Pieschen nur wenige Bomben gefallen – nur ein paar bald gelöschte verirrte Brennstäbe und hier und da eine kleine Sprengbombe. Die Eisenberger Straße sah noch lange nach dem Krieg so aus, wie sie vor ihm auch schon war: grau, proletarisch, hässlich, vernachlässigt, aber sauber. Sauber die Straße, sauber die Straßenrinne, sauber die Gehwegplatten. Dafür sorgten die Hausgemeinschaften, denen dafür ein kleiner Obolus in die Hausgemeinschaftskasse floss. Hausgemeinschaften – das war eine Erfindung der neuen Herren, der Kommunisten.
Zum Promenieren war die Eisenberger Straße so wenig gebaut worden wie die benachbarten Straßenzüge. Hier wohnte man. Die meisten Pieschener empfanden diese hundert Jahre alten Miethäuser als ihr Zuhause. Auch Bettinas Eltern, Klaus und Helga Herrmann – Herrmann mit zwei „r“, selbstverständlich, wie Klaus hervorhob – waren zufrieden mit ihrer Wohnsituation. Andere hatte es viel schlimmer getroffen. Sie wohnten zur Untermiete, hausten in irgendeinem Zimmer, geduldet von den sogenannten Hauptmietern, gemocht von ihnen nur sehr selten.
Behaglich war die Herrmann‘sche Wohnung nicht. Aber die Familie hatte eine, wenn sie ihr auch auf eine merkwürdige Weise zugesprochen worden war.
Das familiäre Leben fand in der Wohnküche statt. Hier thronte der Herd mit seinem Feuerloch und der Röhre, in der das Wasser fast immer lauwarm war. Neben dem Ofen hatte Klaus Herrmann eine Platte montiert. Auf ihr konnte man Teller und Töpfe abstellen. Sie aber war nur benutzbar, wenn der Abfluss nicht gebraucht wurde, denn die Platte deckte ihn ab. Sie enthielt ein kleines, genau gezirkeltes Loch, für den Fall, dass der Messing-Wasserhahn tropfte. Während des Krieges hatte der Hausbesitzer neben dem Herd einen Gaskocher mit zwei Flammen montieren lassen. Die Gasuhr, die das verbrauchte Gas zählte, hing im Hausflur und musste mit Groschen gefüttert werden, sonst gab es kein Gas. Allerdings hatte ein paar Jahre nach dem Krieg die neue Hausverwaltung die Groschenuhr durch einen Gaszähler ersetzt, der leider, so fanden Herrmanns, zu schnell und zu gründlich zählte. Mitunter überschritten sie die zugeteilte monatliche Menge, die für acht Pfennige je Kubikmeter zu haben war. Der Mehrbedarf aber war teuer, Gas war noch eine Zeit lang knapp. Aber auch diese war inzwischen vorüber. Herrmanns konnten so viel Gas verbrauchen, wie sie wollten. Es kostete nach wie vor und bis zur Wende 1990 acht Pfennige. Der Staat subventionierte es trotz enorm gestiegener Produktionskosten.
Inmitten der Wohnküche stand ein großer Tisch, um den sechs Stühle gruppiert waren – für den Fall, dass Helgas Mutter, Oma Elfriede, vorbeischaute. Ein ererbter Sessel schob sich unter die Dachschräge. Neben ihr war ein selbst gezimmertes Regal eingepasst, auf dem ein paar Bücher von Gerstäcker, Karl May, Courths-Mahler, aber auch Gorkis „Die Mutter“, Ostrowkis „Wie der Stahl gehärtet wurde“ und ein Bändchen „Deutsche Gedichte“ den Leser vergebens lockten. Die Fächer darüber, der Dachschräge angepasst, hatte Helga mit allerlei Nippes ausgefüllt, ererbt von ihrer vor ein paar Jahren verstorbenen Großmutter. Helga hielt die alten, kleinen Sachen hoch, liebte sie als Erinnerungsstücke ...